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Am Ende der Rolltreppe schlug Sofi den Weg durch den Verbindungsgang zu den Pendelzügen ein. Wegen des Feierabendverkehrs hatte sie den Polizeivolvo vor Anna-Lenas Haus stehengelassen und die U-Bahn genommen.
In beide Richtungen drängten Menschen durch den Gang. Sofi versuchte, die tiefe Decke nicht zu beachten. Sie musste immer wieder ausweichen, um nicht angerempelt zu werden. Beinahe stieß sie mit einer Frau zusammen, die aus der Gegenrichtung kam und beim Laufen in ihre Einkaufstüte blickte.
Und dann geschah es. Sie hatte den rennenden Mann schon aus den Augenwinkeln bemerkt, bevor sie die Säule passierte. Hinter der Säule musste er die Richtung gewechselt haben, denn er schoss dahinter hervor und rammte Sofi von der Seite. Sie schlug mit dem Hintern auf den Boden. Einige Meter schepperte ihr Telefon über die Fliesen.
Eine Weile nahm Sofi nichts als Schwärze um sich herum wahr. Als die Benommenheit abklang, hatte sich der Mann über sie gebeugt. Der Kopfhörer seines Telefons war ihm vom Zusammenprall aus dem Ohr gerutscht und baumelte über dem Boden. Er reichte ihr seine Hand, zog sie in den Stand und manövrierte sie zur Säule, damit sie sich dagegenlehnen konnte. Sie spürte Übelkeit. Der Mann sagte etwas, aber sie war noch damit beschäftigt, ihre Sinne zu ordnen. Auf einmal stand eine alte Frau bei ihr.
„Du hast dein Telefon verloren!“
Sofi griff mechanisch danach und steckte es in ihre Tasche. Der Mann bot ihr Hilfe an, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nur ein bisschen hier stehen und sich erholen. Er blieb fünf Minuten bei ihr, bevor sie ihn wegschickte und sich von der Säule abdrückte. Die letzten Meter legte sie schwankend zurück. Im Pressbyrå neben dem Fahrkartenschalter kaufte sie kalte Limonade.
Das Telefon klingelte. Es war Barbro. Sie war gerade mit Theresa in der Schalterhalle eingetroffen.
„Könnt ihr die Fächer oben nehmen?“, fragte sie. „Ich schaue hier unten. Da sind auch noch welche. Nummer 609.“
Gegenüber vom Schalter führte ein enger Durchgang zu den Toiletten, einem Schusterladen und fünf Korridoren mit langen Reihen aus Schließfächern. Sofi warf einen Blick in den ersten Korridor und erkannte, dass sie hier unten gar nicht so falsch war, aber die Nummern waren zu niedrig. Korridor für Korridor lief sie an den Fächerreihen entlang. Der dritte begann mit der Nummer 592. Sofis Blick wanderte an den Fächern hinauf und hinab. Es lagen immer drei übereinander.
Dann entdeckte sie es: Nummer 609 befand sich unten am Boden. Sofi sank auf die Knie. Es steckte kein Schlüssel im Schloss. Die Anzeige verlangte achtzig Kronen Nachzahlung. Am Eingang des Korridors hing eine Preistafel. Vierundzwanzig Stunden kosteten vierzig Kronen. Man konnte auch für mehrere Tage vorauszahlen, aber anscheinend hatte Fabia das nicht gemacht. Vorausgesetzt, sie hatte das Fach überhaupt gemietet. Wenn sie jetzt achtzig Kronen nachzahlen musste, dann musste die Miete seit über vierundzwanzig Stunden erschöpft sein. Da Sofi jedoch nicht wusste, für wie viele Tage Fabia vorausbezahlt hatte, ließ sich der Zeitpunkt nicht bestimmen.
Sie griff in ihre Hosentasche und förderte vier Zehn-Kronen-Stücke zutage. Sie verständigte Barbro, ging dann zum Wechselautomat und schob zwei Zwanzigkronenscheine in den Schlitz.
Nach einer Minute trafen Barbro und Theresa ein. Barbro legte den Spurenkoffer auf den Boden und klappte ihn auf.
„Da muss ein Lackstift drin sein“, sagte Sofi und zählte acht Zehn-Kronen-Münzen ab.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte Barbro.
„Wieso?“
„Du lallst ein bisschen und bist ganz blass im Gesicht.“
Barbro konnte Menschen Liebeskummer, Glück und Krankheiten immer gleich ansehen.
„Es geht schon. Ich bin vorhin mit einem Mann zusammengestoßen.“
Barbro kramte im Koffer und reichte Sofi den Stift. Damit malte sie auf jede Münze ein schwarzes Kreuz.
„Warum machst du das?“, wollte Theresa wissen.
Sofi wollte jetzt nichts erklären. Sie fischte einen Notizzettel aus der Tasche, auf den Anna-Lena vorhin die Abdrücke ihres Daumen und ihres Zeigefingers gesetzt hatte. Zum Glück besaß sie als Fotografin zahlreiche Stempelkissen. Sofi reichte Barbro den Zettel und den Schlüssel in einer Frischhaltefolie.
„Alle Abdrücke auf dem Schlüssel außer diesem sind wichtig“, sagte Sofi.
Barbro nahm den Scanner aus dem Koffer.
„Nur diese Abdrücke sind darauf“, teilte Barbro nach einer Weile mit. „Willst du die Folie benutzen?“
Sofi überlegte. Wenn das Fach schon vor einigen Tagen gefüllt worden war, musste der Boden inzwischen gewischt worden sein. Sie nickte dennoch. Gemeinsam zogen sie zwei lange Streifen von der Rolle und klebten sie auf den Boden vor dem Schließfach.
„Wie lange muss die Folie draufbleiben?“, fragte Sofi.
„Zwanzig Sekunden, wenn du ganz sicher gehen willst. Aber dafür reicht ein einziger Durchgang.“
Nach einer halben Minute ließ sich die Folie nur mit viel Kraft und einem lauten Ratschen von den Fliesen lösen. Während Barbro die Klebefläche der Folien versiegelte, sprühte Sofi den Indikator auf Tür und Rahmen des Faches.
„Soll ich jemand von der Bahnhofswache holen?“, fragte Theresa, die tatenlos zusehen musste. „Die können das Fach dann bewachen, bis einer von den Technikern kommt.“
Sofi meditierte einige Sekunden vor der geschlossenen Schließfachtür und schüttelte dann den Kopf. „Da vorne gibt es einen Hinweis, dass die Fächer videoüberwacht sind, und eine Telefonnummer von der Boxgruppe ist auch angegeben. Ruf mal an. Wir brauchen die Videos der vergangenen zehn Tage. Und sie sollen weiter überwachen.“
Theresa sprang auf. Sofi machte den Scanner bereit und wartete, bis Barbro den Strahler auf den Griff des Faches richtete. Das ganze Fach war übersäht mit Abdrücken. Anscheinend wurden sie nie abgewischt.
Nach einer Viertelstunde hatte der Scanner alle verwertbaren Abdrücke erkannt und gespeichert. Sofi streifte sich Handschuhe über. Inzwischen war Theresa zurückgekehrt und machte sich mit der Kamera aus dem Spurenkoffer hinter Sofis Rücken bereit.
Sofi warf eine Münze nach der anderen ein. Als der Zähler bei null stand, steckte die den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Tür quietschte beim Öffnen.
„Ein Koffer!“, rief Theresa unnötigerweise.
Er war bis an die Rückwand hineingeschoben. Sofi leuchtete mit der Taschenlampe hinein, um sicherzugehen, dass das Fach wirklich nur den Koffer enthielt.
„Sieht eher wie ein Aktenkoffer aus“, vermutete Theresa.
Warum musste Theresa immerzu ihre Gedanken aussprechen, ärgerte sich Sofi. Sie ließ dadurch die Eindrücke und Überlegungen der anderen nie zum Ende kommen. Mit beiden Händen griff sie in das dunkle Fach. Der Koffer war aus einem dünnen Metall und war weder schwer noch leicht.
„Es gibt ein Problem“, sagte Sofi, als der Koffer halb aus dem Fach ragte. „Nur Fabia kann den Schlüssel in Lovisas Tasche gesteckt haben, aber auf den Bändern vom Flughafen hatte sie diesen Koffer nicht dabei.“
Barbro wusste keine Erklärung und starrte auf den Koffer. Sofi zog ihn ganz heraus und prüfte an allen Seiten, ob es einen diplomatischen Vermerk darauf gab. Aber er war einfach nur schwarz.
„Hast du eine Tüte?“
Barbro nickte und wühlte im Spurenkoffer, bis sie eine Tüte von ausreichender Größe fand. Sofi besprühte den Griff und einige andere Stellen mit Fixiermittel und wickelte den Koffer dann ein. Barbro verstaute alle Utensilien.
Sofi leuchtete zum letzten Mal in das leere Fach und schloss dann die Tür. Sie hatte noch vier Münzen und warf sie ein.
„Ah!“, rief Theresa, die jeden von Sofis Handgriffen genau verfolgte. „Ich verstehe.“
Mit ihren Kolleginnen zu beiden Seiten machte sich Sofi auf den Weg. Der Koffer konnte nicht nur Kleidung enthalten. Dafür war er etwas zu schwer. Sie wagte nicht, ihn zu schütteln, und öffnen wollte sie ihn auch noch nicht.
Nebeneinander liefen sie durch den Gang in die Richtung, aus der Sofi zuvor gekommen war. Unterwegs zeigte Sofi ihren Kolleginnen die Stelle, wo es sie zuvor erwischt hatte. Von nun an sagte keine von ihnen mehr ein Wort. Als sie die Schranken vor der Rolltreppe hinab zur U-Bahn erreichten, blieb Sofi ohne einen klaren Gedanken stehen.
„Was ist?“, fragte Barbro.
Sofi drehte sich um und blickte in den Gang zurück. Wie auf dem Hinweg war er voll von hastenden Menschen. „Wir sind gar nicht angerempelt worden. Obwohl wir nebeneinander liefen. Es war nicht mal eng.“
Ihre Kolleginnen sahen einander besorgt an. Sie steckten ihre Monatskarten durch den Schlitz und passierten die Fahrkartenschranken. Auch unten auf dem Bahnsteig der blauen Linie drängten sich die Menschen. Viele telefonierten. Es dauerte fast zehn Minuten, bis endlich die nächste Elf nach Akalla kam. Nach dem Einsteigen blieben die drei in der Mitte zwischen den Türen stehen. Die Bahn fuhr ruckelnd los. Obwohl sich die Leute im ganzen Wagon dicht aneinanderdrängen mussten, gab es um die drei herum ein wenig Freiraum. Sofi erklärte es sich mit den beiden Koffern, die sie in den Händen hielten.
Bei der nächsten Station kam schon das Rathaus. Die meisten wollten weiter bis zum Fridhemsplan. Sofi bahnte sich den Weg zur Tür und schaffte es hinaus auf den Bahnsteig, ohne angerempelt zu werden.
„Das war doch jetzt komisch, oder?“, sagte Theresa, nachdem sich die Türen hinter ihrem Rücken geschlossen hatten.
„Was war komisch?“, fragte Sofi.
„Was glaubst du, was in dem Koffer ist?“
Sofi zuckte mit den Schultern. Sie hatte wirklich keine Ahnung.
„Kommt weiter“, sagte Barbro. „Theresa muss um halb zehn am Flughafen sein.“
Sie erreichten das Freie. Der Himmel hatte sich dunkelblau verfärbt, und die Straßen waren düster. Sie umrundeten das Rathaus und liefen auf der Bergsgatan hinauf zum Polizeigebäude.
An der Ecke zur Polhemsgatan blieb Sofi wieder stehen. Diesmal hatten sie einen klaren Gedanken. „Was haltet ihr davon, wenn wir erst in den Park gehen, und dort den Koffer öffnen?“
Theresa nickte. Es erstaunte Sofi, dass ausgerechnet Theresa es auch spürte. Barbro schaute ihre Kolleginnen fassungslos an.
„Ich bin mir nicht sicher, aber irgendetwas stimmt nicht“, sagte Sofi. „Ich habe ein eigenartiges Gefühl im Bauch.“
„Darauf solltest du nicht hören“, fand Barbro.
„Ich meine das nicht im übertragenen Sinn.“
Barbro sah auf Sofis Bauch. „Vielleicht kommt es von dem Zusammenstoß. Ist dir übel?“
„Es ist eher ein taubes Gefühl.“
„Dann bist du schwanger.“
„Ich will nur nicht mit dem Koffer ins Gebäude und ihn einfach bei Per abstellen. Es kann noch Stunden dauern, bis er zurückkommt. Wenn etwas Gefährliches drin ist?“
Theresa nickte. Das gab Sofi die Bestätigung, dass ihr Gefühl doch mit dem Koffer zu tun hatte und nicht mit ihrem Zusammenprall im Gang.
„Na gut“, sagte Barbro.
Sie überquerten die Straße und liefen über die Treppe hinauf in den Park. Im Polizeigebäude auf der anderen Straßenseite waren viele Fenster erleuchtet. Erst wollten sie eine Bank suchen, aber dann ließen sie sich auf der Wiese nieder. Der Koffer hatte vier Schnappverschlüsse, wie sie keine von ihnen bisher an Koffern gesehen hatte. Auch sonst wirkte er eher wie eine besondere Anfertigung oder ein Koffer, der für einen ganz bestimmten Zweck verwendet wird, den sie nicht kannten.
Ein Schloss gab es nicht. Sofi ließ die Bügel aufschnappen und hob den Deckel. Ein intensiver Geruch schlug ihnen entgegen. Erst wollte Sofi sich abwenden, aber dann erkannte sie den Duft. Er war ihr gut vertraut und nichts, wovor sie sich fürchten musste.
„Riecht nach Birkenrinde, glaube ich.“
Theresa nickte.
Sofi hob eine Decke aus schwarzem Filz ab. Sie war nur locker über den Inhalt gebreitet worden. Alle drei starrten sie auf das, was darunter zum Vorschein kam.
„Holz“, sagte Barbro. „Das sind Zweige.“
Die Zweige waren alle auf dieselbe Länge geschnitten und dick wie ein Finger. Sofi beugte sich vor und schnupperte. Da war noch ein anderer Duft, ebenso natürlich, allerdings nicht identisch mit dem Birkenduft. Sie griff hinein, um einen der Zweige herauszunehmen, aber es ging nicht. Sie waren miteinander verschnürt.
„Leuchte mal mit der Lampe.“
Barbro öffnete hastig ihren Spurenkoffer und kramte nach der Lampe.
„Wow!“, sagte Theresa.
Im Lampenschein konnte Sofi die Stoffbänder sehen. Die Bänder fassten die Zweige zu drei Bündeln zusammen und waren aus grobem Leinen, das am Saum ausfranste. Sofi griff nach dem mittleren Bündel und zog es heraus. Beim Anheben kippte es ihr beinahe aus den Händen, weil das Gewicht entgegen ihrer Erwartung ungleichmäßig verteilt war.
Theresa deutete auf das schwere Ende. „Das ist Metal an der Spitze.“
Sofi betastete die beiden Streifen, die in entgegengesetzte Richtungen aus dem Holzbündel herausragten. Es war wirklich Metall. Sofi hielt sie sich dicht vor die Nase und schnupperte wieder.
„Das ist es, was so komisch riecht.“
„Ich weiß, was das ist“, sagte Barbro.
Sofi nickte. „Birkenpech, wie gestern.“
„Nein, ich meine das Ganze.“ Barbro hob ihren Hintern von den Fersen und zog den Dienstausweis aus der Gesäßtasche. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Wappen der schwedischen Polizei. „Hier hinter dem Wappen sind zwei solcher Bündel. Es sind Fasces.“
Weil Sofi das Bündel noch gegen ihre Brust drückte, musste Barbro ihr den Ausweis dicht vor die Augen halten.
„Das waren die Machtinsignien hoher Beamter im alten Rom. Prätoren, Konsuln und was weiß ich. Ihre Leibwächter trugen sie vornweg, wenn sie draußen herumliefen. Daher kommt auch das Wort Faschismus. Heute werden sie oft als Symbol für Staatsgewalt verwendet.“
„Zeichen oder Bild“, korrigierte Sofi. „Wir dürfen nicht Symbol sagen.“
Da konnte Kjell Cederström wirklich wild werden.
„Da pfeife ich drauf. Ich weiß nie, wann etwas Zeichen oder Bild ist.“
„Es ist ein Zeichen“, sagte Sofi. „So wie der Speer. Und so wie der Hammer. Ein Zeichen ist es, wenn es auf etwas zeigt.“